Zeitzeuge Herr Plugk

Zeitzeuge Herr von Pflugk


Lesen Sie die Soldatenzeit von Tham-Joachim von Pflugk Jahrgang 1925, der 1942 mit 17 Jahren einberufen wurde und zum Glück alle Gefahren der Kriegszeit überlebt hat.

Die Familie


Beide Großväter waren gehobene Beamte, und zwar mütterlicherseits in Kassel Geheimrat, väterlicherseits Ministerialrat in Dresden. Daraus resultiert die Grundeinstellung, die meine Erziehung mehr oder weniger beeinflusste. Mein Vater war im ersten Weltkrieg Offizier. Er war durch seine Mutter so vermögend, dass er nie zu arbeiten brauchte. Das Vermögen ging aber nach dem Zusammenbruch weitgehend verloren. Daher arbeitete mein Vater in verschiedenen Berufen. Zuerst war er kaufmännischer Angestellter in einer Bank, dann zogen wir von Dresden nach Meissen. Dort absolvierte mein Vater ein Landwirtschaftsstudium, und daraus resultiert mein verrücktes Leben.

Mein Vater pachtete nach seinem Landwirtschaftsstudium einen Hof in Kärnten, 6 km südlich von Klagenfurt, mit den dazugehörenden Gebäuden, aber alles lebende und tote Inventar musste er mitbringen. Dies war eine Aktion der damaligen österreichischen Regierung. Sie suchten deutsche Siedler als Bollwerk gegen die Slowenen. Mein Vater blieb Reichsdeutscher, leider. Er hat mit den Nazis – ca. 1928/29 – sympathisiert. Auf dem Hof in Kärnten erhielten wir Kinder Unterricht durch eine Hauslehrerin, aber das funktionierte nicht. Deswegen zogen wir zu unserer Großmutter nach Kassel. Dort erlebte ich die erste wirkliche Schule. Leider musste mein Vater aus Österreich fliehen wegen seiner Nazisymphatie – das war die Zeit unter Dollfuß-Schuschnigg – und meine Mutter allein lassen. Meine Mutter musste deswegen in Österreich alles mehr oder weniger verschleudern. Dann ging mein Vater nach Pretsch an der Elbe auf eine SA-Wehrsportschule, und 1935 hatte er Glück, dass Hitler die Remilitarisierung durchführte. Denn dadurch kam mein Vater als Hauptmann ins Wehrmeldeamt nach Stolbert/Erzgebirge. Er führte dieses Amt. Danach ging es mit der Familie finanziell wieder aufwärts. Meine Schulzeit in Stolberg im Erzgebirge begann. Ich besuchte kurze Zeit die Volksschule und kam dann aufs Gymnasium. Das waren meine entscheidenden Jugendjahre nach dem vielen Hin und Her (Hamburg, Pretsch, Kärnten, Kassel). Stolberg wurde meine Heimat. Das Gymnasium, ein gemischtes Gymnasium, habe ich bis 1942 besucht. 1939 begann der Krieg. Dadurch war meine Gymnasialzeit nicht so erfolgreich. Die jungen Lehrer waren alle eingezogen, und wir hatten die alten Herren, die reaktiviert wurden. Pensionierte Lehrer!


Die Schulzeit


In unserem Stolberger Gymnasium hatten wir in jedem Jahrgang sehr viele Fahrschüler, und es gab auch ein Internat. Der Mädchenanteil war gering. In jedem Jahrgang gab es eine A- und eine B-Klasse. Die A-Klasse war eine reine Jungenklasse. Die B-Klasse hatte dann einige Schülerinnen. Das waren im Durchschnitt ca. 30 Schüler pro Klasse, in der Oberstufe waren es statt 60 nur noch 10 Jungs und zwei Mädchen. In der Oberstufe bin ich dann mit den Mädchen zusammengekommen, was sehr erfreulich war. Erstaunlicherweise blieb die eine Klassenkameradin noch in Berlin, und es war ein tolles Erlebnis, dass wir mit den Mädchen zusammen unterrichtet wurden. In unserem Jahrgangsbuch waren immer die Berufe der Eltern, insbesondere der Väter, aufgeführt. Auch in der damaligen Zeit hatten wir zu etwa 40 % Arbeiterkinder in der Klasse. Das ist bemerkenswert, weil heute immer so getan wird, als wären nur Privilegierte auf das Gymnasium gekommen.

Wir erhielten die sog. Vorsemesterbescheinigung. Die war von Hitler erlassen worden. Wenn man die Versetzung zur Oberprima hatte, sollte man nach einem Vorsemester an der Universität die Berechtigung zum Studium erlangen. Das aber verpasste ich im Gegensatz zu meinen Klassenkameraden leider.

Die Vorsemester-Bescheinigung bekamen nur diejenigen Schüler, die aktive Offiziersbewerber waren. Sie mussten vorher eine recht schwierige Prüfung bestehen. Ich musste ein Jahr vor der Einberufung nach Dresden und Klotsche und eine dreitätige schwere Prüfung ablegen. Die habe ich bestanden, denn sonst wäre ich nicht eingezogen worden. Die anderen haben nach Kriegsschluss Abitur gemacht, haben also nur begrenzt Wehrdienst (Heimwehr, Flakhelfer) leisten müssen. Ich meldete mich freiwillig, weil das irgendwie in meiner Familie verwurzelt war. Offiziere hielten Verträge, waren schneidig, das war Musik in meinen Ohren.

Wie alle Jungen meines Alters war ich Pimpf, also beim Jungvolk, und muss aus meiner Sicht der Dinge sagen, dass das absolut ideal war. Was wir nicht gewusst haben – das haben wir eben damals nicht kapiert – ist, dass wir eine vormilitärische Ausbildung bekamen. Aber wir machten viel Sport. Ideal war das, weil die Dinge, die in Großstädten passiert sein mögen, bei uns in der Kleinstadt nicht vorkamen. Es wurde nicht geraucht, kein Kaffee getrunken, ich hatte keine negativen Jugenderlebnisse, wir machten keine negativen Schlagzeilen. In diesem Stolberg gab es nur zwei Juden. Die beiden Juden wurden nicht belästigt. Wir haben uns nur einen Spaß daraus gemacht, den beiden die Abzeichen für das Winterhilfswerk zu verkaufen.

Ich wurde Jungzugführer. Dann später war ich im Fanfarenzug und bin in die Motor-HJ gegangen, aber ohne weiter aufzusteigen. Die Nazizeit hatte auf das Leben in meiner Familie eigentlich kaum Einfluss. Wir waren eben eine Familie, die vom Beamtentum geprägt war. Man musste für die jeweilige Politik arbeiten, und außerdem waren die Beamten alle sehr wütend auf den Versailler Vertrag, wollten ihn rückgängig machen und waren daher hitlerfreundlich. Meine Erziehung und meine Ausbildung wurde ansonsten kaum politisch beeinflusst. Wir sind aus unserem Stolberg eigentlich nur rausgekommen, wenn wir zu den Sportfesten von der HJ gingen, meine vier Geschwister und ich.


Soldatenzeit


Ich war 1942 also 17 Jahre alt, ging dann zuerst einmal zum Arbeitsdienst beim Arbeitsdienstgau 38 in Prag. Da arbeiteten wir nie, obwohl das Arbeitsdienst hieß. Unsere Abteilung war zur Bewachung des Arbeitsgau-Wirtschaftshofes abgestellt. Dort lagen die ganzen Materialien für den Arbeitsgau Prag in mehreren Baracken. Wir mussten diese Baracken bewachen, damit die Sachen nicht gestohlen wurden. Wenn die Vorgesetzten nicht mehr wussten, wie sie uns beschäftigen sollten, mussten wir die Baracken umräumen. Wir standen uns immer schräg gegenüber und mussten Teller durchreichen, die dann in eine andere Baracke kamen. Dabei haben wir viel Blödsinn gemacht. Das dauerte ein halbes Jahr. Dort hörte ich das erste Mal etwas davon, dass die Bewachung notwendig wäre. Ich war auf Wache, die Wache trug alles in ein Wachbuch ein, und in dem Wachbuch las ich, dass in dem Jahrgang vor uns das Lager einmal überfallen und auch beschossen wurde. Deshalb stand auf der Wache für jeden von uns ein Karabiner mit scharfer Munition. Den mussten wir dann nachts, wenn wir auf Streife gingen, mitnehmen. Sonst waren wir nicht bewaffnet. Der Überfall, der vor unserer Zeit stattfand, war eine Folge von der Ermordung Heidrichs. Als Vergeltung liquidierte man damals das Dorf Lidice, und der Überfall auf unsere Materialbaracken war ein Racheakt der Tschechen. Der Ort, in dem wir waren, hieß Prag Vocovic. Die Tschechen müssen uns eigentlich für verrückt gehalten haben. Sie konnten nämlich unser Lager von der höher gelegenen Straße aus einsehen. Wir hatten so einen blöden Lagerführer, der befahl, dass man auf der Lagerstraße nicht im Schritt gehen durfte, weder zum Essen noch zum Appell. Wir mussten immer laufen. Mit unserer Kleinstadterfahrung waren wir etwas naiv, und so versuchten wir auch einmal, ein Bordell aufzusuchen – aus Neugierde. Aber das gelang uns nicht, denn ein Landser schmiss uns raus.

Nach dem Arbeitsdienst wurde ich zum Militär eingezogen. Ich wollte aktiver Offizier werden. Im Unterschied zur Kaiserzeit wurden die Soldaten unseres Jahrganges in Lehrgängen zu Offizieren ausgebildet. In der Kaiserzeit wurden sie an die Front geschickt, und nur, wer sich an der Front bewährt hatte, konnte Offizier werden und kam dann zur speziellen Offiziersausbildung. Wir waren von Anfang an in Lehrgängen, und nach Abschluss der Lehrgänge musste man zur Frontbewährung, und da wollten sich die jungen Männer dann besonders hervortun, damit sie gute Voraussetzungen für die Offizierslaufbahn hatten. Dabei sind wahnsinnig viele junge Männer gefallen.


Ich musste mich melden und einrücken in Polen – Modlin (Schlacht vor Modlin). Das Modlin hatte ich mir anders vorgestellt. Es war ein winziges Dorf, eigentlich nur eine Bahnstation und vor allem eine Festung. Ich musste durch einen langen Torbogen gehen und dachte, ich wäre im Gefängnis, aber das war eine mittelalterliche Festung, in der eine Riesengarnison untergebracht war. Dort blieb ich nur eineinhalb Tage. Ich wurde abkommandiert nach Schroddersburg, heute ein polnisches Städtchen an der Weichsel namens Plock, damals ein rein deutsches Städtchen. In Schroddersburg machte ich die Grundausbildung. Und wie es der Zufall so wollte: Ich komme in die Kaserne rein und treffe dort einen meiner Klassenkameraden, der als höherer HJ-Führer nicht zum Arbeitsdienst musste. Wir haben sehr viel Gemeinsames erlebt. Das gab mir Auftrieb.

Die Grundausbildung (1943) dauerte 6 Monate, war hart, aber für einen jungen durchtrainierten Mann kein Problem. Nach diesen 6 Monaten bekamen wir als äußeres Kennzeichen auf die Schulterklappen zwei feldgraue Balken. Dann wurde der ganze Lehrgang geschlossen verlegt nach Kosten. Das liegt zwischen Posen und Lissa. Dort ging die Ausbildung weiter auf der Unteroffiziersschule. Während dieses Lehrgangs war es wahnsinnig kalt, denn es war mitten im Winter. Ich bekam durch eine verschleppte Angina eine Herzmuskelentzündung. Damit war der Lehrgang für mich gelaufen. Ich musste den Lehrgang wiederholen, während meine Kollegen Fahnenjunger/Unteroffizier wurden. Ich kam nach Saarlouis mit völlig neuen Kollegen. In der Zwischenzeit war die Invasion. Am helllichten Tage kamen die Amerikaner und Engländer mit ihren Flugzeugen (den Bombern). Wir erhielten pro Mann einen Patronenstreifen für einen Karabiner mit sechs scharfen Geschossen. Wir mussten die Geschosse in Krepppapier einwickeln und in die Brusttasche stecken für den Fall eines Falles (um uns zur Wehr zu setzen). Wir waren im Gelände, als wieder Bomber geflogen kamen. Unser Feldwebel schrie: „Vollste Deckung!“ Und wir als nicht kriegserfahrene und unternehmungslustige Naive hatten nichts Eiligeres zu tun als diese sechs Patronen herauszuholen, auszuwickeln und das Gewehr zu laden. Gott sei Dank dauerte das so lange, dass die Flieger inzwischen weg waren. Das war unser Glück. Die Unteroffiziersschule konnte ich nicht beenden, weil sich unser Chef, Oberst Wegelein, mit seiner ganzen Schule als Kampfgruppe in den Einsatz meldete. Er hatte schon das Deutsche Kreuz in Gold, und wir vermuteten, dass er scharf auf das Ritterkreuz war. Zu diesem Zweck wurde wohl die Kampfgruppe gebildet. Die Unteroffiziersschüler stellten den unteren Führungskader dar und wurden aufgefüllt mit Leuten aus den Genesungskompanien bzw. den Frontsammelstellen. Dort sammelten sich Soldaten aus allen verschiedenen Einheiten, zurückgekehrte Urlauber z. B., die nicht zu ihren Einheiten zurückgefunden hatten. Diese Kampfgruppe wurde in die Eifel (Bitburg/Dassburg, 1944) verlegt, wo wir für einige Wochen die Bunker des alten Westwalls, die ja nicht benutzt waren, belegten.


Erster Kampfeinsatz


Interessant war, dass wir in ca. 2 km Entfernung über ein Tal hinweg die Amerikaner sahen, und wir konnten nichts machen. Wir fuhren in langen Kolonnen quer zu unserer Bunkerlinie. Wir lagen auf der einen Seite, und über ein breites Tal sahen wir die Amerikaner auf der anderen Seite. Wir hatten keine Waffen, um sie zu bekämpfen. Das war im Herbst 1944. Da hat Hitler den Ardennen-Angriff befohlen. Im Wald von Hürtgen starteten wir einen Angriff. Bei Tage konnten wir uns auf keiner Straße bewegen, weil die Lufthoheit bei den Feinden lag. Sie kamen mit den Lightnings, die eine ungeheure Feuerkraft hatten und im Tiefflug alles beschossen, was sich bewegte. Wir waren in diesen Angriff involviert. Bisher war der Krieg für uns eine Art Spiel, wir hatten noch nichts Ernsthaftes erlebt. Wir liefen vom Waldrand über ein Wiesenstück, um auf der anderen Seite wieder in den Wald hinein zu laufen. Dort aber hatte sich der Feind getarnt. Sichtbar war das nicht. So erlebte ich das erste Mal den Ernstfall. Mein Kamerad neben mir wurde in den Bauch getroffen. Wir hörten ihn stöhnen und schreien, mussten aber weiter laufen. Aus lauter Schreck und Schock haben wir uns erst einmal hingelegt. Da schrie einer: „Da hinten laufen die Amis ja!“ Sofort liefen wir heldenhaft hinterher, ohne über die Gefahr nachzudenken. Wir kamen ein ordentliches Stück in dem Wald vorwärts, haben dort noch eine Stelle gefunden, an der die Amerikaner einen Lagerplatz hatten. Wir fanden Kisten mit Verpflegung und Munition. Ich entdeckte einen handtellergroßen Kloß Butter, der ringsherum mit Tannennadeln bedeckt war. Zuerst wusste ich gar nicht, was das sein könnte, aber dann war die Überraschung groß. Natürlich freute ich mich über die Butter, und die Dosen haben wir auch alle mitgenommen. Wir stellten fest, dass die Amerikaner viel praktischer ausgerüstet waren als wir. Die Dosen waren relativ klein. Wenn wir eine Dose schüttelten und sie dann klapperte, wussten wir, dass darin Pulverkaffee, Kekse, Schokolade oder Zigaretten waren. Was nicht klapperte, enthielt Fertiggerichte oder Dosenfleisch. Die Amerikaner sind so schnell vor uns geflüchtet, dass sie alles liegen ließen: Koppel, Munition und Waffen. Hätten wir das gemacht, wären wir vor das Kriegsgericht gekommen.

Unser Befehl lautete: „Weiter vorrücken!“ Plötzlich kam ein Melder mit dem Befehl, dass wir nicht vorrücken, sondern uns eingraben sollten, was wir im Wald versuchten, aber das war nicht so einfach. Wir hatten zu zweit einen Spaten, und im Wald mit den vielen Baumwurzeln ergab dies ein Problem, das sich dramatisch zuspitzte, weil die Amerikaner mit ihren Tieffliegern, nicht wissend, wo wir waren, den Wald „abharkten“, also blind in den Wald hinein schossen. Wir haben uns quasi um den Spaten gekloppt, um zu graben und vor den Angriffen der Tiefflieger ein wenig Schutz zu haben. Wir lagen am Waldrand. Von links und rechts war wie ein Weg durch die Wälder eine Lichtung, sehr schmal. Die Lichtung traf wie ein stumpfer Winkel genau an der Stelle zusammen, an der wir uns eingruben. Etwa 50 m entfernt vor uns lagen die Amerikaner, die wir aber nicht bemerkt hatten. Sie schossen in beide Seiten der Lichtung, und weil sie teilweise Leuchtspur-Munition verwendeten, konnte ich genau erkennen, von welcher Stelle aus geschossen wurde. Also legte ich meinen Karabiner in Schussrichtung, zielte und drückte mehrfach ab. Daraufhin hörte das gegnerische Schießen auf. Natürlich war ich neugierig – wie eben ein Anfänger – und steckte meinen Kopf aus meiner Kuhle etwas heraus. Ein kriegserfahrener Soldat hätte das nicht riskiert. Ich wurde beschossen und handelte mir einen Streifschuss an der rechten Schulter ein. Das tat höllisch weh, war aber nicht gefährlich und sah aus wie die Narbe einer Pockenimpfung.


Ausbildung zum Offizier


Dann kam plötzlich der Führerbefehl, dass alle Offiziersbewerber aus der Einheit herauszuziehen und zur Sammelstelle zu schicken sind. Das war für die zurückbleibenden Soldaten sehr schmerzhaft, weil sie dadurch in ihrer Verteidigung sehr geschwächt wurden. Die Kampfgruppe – das erfuhr ich später – wurde aufgerieben. Auf der Sammelstelle hinter der Front erhielten wir Marschbefehle zu unseren Einheiten. Ich ließ mir meinen Marschbefehl für meine Einheit in Schroddersburg ausstellen. Ich wusste, dass diese Einheit wohl eigentlich nicht mehr bestehen konnte, denn Schroddersburg liegt an der Weichsel, und dort waren schon die Russen. Aber ich dachte, ich könnte vielleicht einen Kurzbesuch bei meinem Vater in Chemnitz einplanen, der dort als Offizier beim Wehrbezirkskommando war. Als ich in Chemnitz am Bahnhof eintraf, wurde ich von einem sog. „Kettenhund“ (= Wehrmachtspolizei) angehalten, zeigte meinen Marschbefehl vor und sagte, ich wolle beim Wehrbezirkskommando fragen, wo meine Einheit jetzt sei, weil ich gehört hätte, dass sie nicht mehr in Schroddersburg sein könne. Aber der Kettenhund setzte mich sofort in den nächsten Zug nach Dresden. Dort besuchte ich dann wenigstens meine Oma und telefonierte nach Hause, um ein Lebenszeichen von mir zu geben.

Am nächsten Morgen erhielt ich einen neuen Marschbefehl nach Marienburg in Westpreußen, also fuhr ich wieder quer durch Deutschland. Dort traf ich meinen alten Kompaniechef, Hauptmann Gehrs, wieder, der mich auch erkannte. Ich wurde für mehrere Wochen als Ausbilder eingesetzt. Ich wartete auf meine Papiere für die Abkommandierung zur Heeresschule II (Offiziersschule) Unser Hauptmann Gehrs setzte zur Weihnachtszeit eine große Übung an. Wir mussten Panzergräben ausheben und Stallungen besetzen und auch in den alten Kasematten übernachten. Dann kam der Heiligabend, und wir waren ziemlich wütend, dass man uns zur Weihnachtszeit so etwas zugemutet hat. Doch dann hieß es, es gäbe eine Weihnachtsfeier in der Kaserne. Wir sollten sie aus Wut boykottieren, hörten aber, dass auch BDM-Mädel eingeladen waren. Das hat uns natürlich sofort überzeugt, daran teilzunehmen. Natürlich war nicht für jeden ein Mädchen da. Die Mädchen saßen immer zwischen vier oder fünf Soldaten. Gerhard Zinke, ein Kamerad aus Thüringen, hat sein Mädchen an mich abgegeben. Sie war sehr nett, eine Lehrerstochter. Ich brachte sie nach Hause, aber leider haben wir uns nie wieder gesehen, obwohl sie versucht hatte, die Verbindung zu halten.

Ich wartete also auf meine Papiere. Sie kamen verspätet. Das war ein Glück, denn sonst wäre ich an die Kriegsschule nach Posen gekommen, die kurz darauf in ganz schwere Kämpfe verwickelt wurde. Dann kamen also meine Papiere, und wieder musste ich quer durch Deutschland reisen, von Marienburg in die Wiener Neustadt. Dort angekommen, schickte man mich in eine uralte Kaserne. Es gab einen großen Raum mit doppelstöckigen Holzbetten. Die Vorgänger hatten sich diesen Raum in lauter kleine Nischen eingeteilt, so dass es ein wenig gemütlich war. Aber unser Kommandeur befahl, dass alle großen Teile an die großen Wände gestellt werden sollten und zu den Fenster hin immer die kleineren Möbel. Also mussten wir allen umstellen: die Spinde an die große Wand, die Betten davor mit einem kleinen Gang dazwischen, und zwar immer zwei doppelstöckige Betten zusammen, so dass vier Leute darin schliefen. Ich lag oben. Einer unserer Kameraden wurde freigestellt, um die Wände zu bemalen. Das Ergebnis war, dass ich, wenn ich aufwachte, immer einen Spruch von Hitler lesen musste: „Wer leben will, der kämpfe also, und wer nicht kämpfen will in dieser Welt des ewigen Ringens, der verdient das Leben nicht.“


Eine Laus als Retter


Es war Januar 1945 – eisig kalt – und der riesige Raum, in dem 30 Soldaten schliefen, war ungeheizt. Mit steifen Fingern sollten wir abends noch unsere Schreibarbeiten leisten. Ein Kamerad fand in seiner Uniformnaht eine tote Laus. Das war die Rettung. Er säuberte die Laus, packte sie in eine leere Streichholzschachtel und zeigte sie dem Vorgesetzten (dem Spieß). Der Erfolg war, dass wir alle zur Entlausung mussten. Die Entlausungsanstalt lag etwas abseits in einer uns unbekannten Wiener Gegend. Direkt in der Nähe fanden wir eine gemütliche Kneipe, eine Kellerkneipe, die nicht von Offizieren besucht wurde, weil sie so versteckt lag. Wir waren entzückt, denn nichts war unangenehmer, als wenn man jedes Mal, wenn ein Offizier das Lokal betrag, salutieren musste. Diese Entdeckung bedeutete für uns, dass wir uns ungestört fast jeden Abend im Warmen aufhalten konnten. Unser Zug war dort bald bekannt. Es war der letzte Kriegsschullehrgang, der überhaupt lief. Wir waren das letzte Aufgebot Hitlers, und alle Offiziersanwärter wurden als Führer eingesetzt. Die sog. Fahnenjunker-Regimenter wurden aufgefüllt mit teilweise unausgebildeten Volkssturmleuten, die zur Hälfte aus Wien und zur anderen Hälfte aus Potsdam stammten. Ich war dort eingeteilt als Führerreserve. Demzufolge waren wir in der Wiener Neustadt länger auf der Kriegsschule als diejenigen, die sofort als Führer eingesetzt wurden. Durch diesen etwas längeren Aufenthalt in der Kriegsschule hatten wir Gelegenheit, Spinde zu kontrollieren – aus lauter Langeweile. In einem fanden wir zwei Päckchen Puddingpulver von Dr. Oetker. Dieses Pulver brachten wir unserer Wirtin aus unserer Stammkneipe. Wir bettelten sie an, sie möge uns davon einen Pudding kochen, vielleicht sei es der letzte, den unser Zug in seinem Leben bekäme. Das tat sie und gab noch eingemachte Erdbeeren dazu. Das war eine große Freude, und alle Gäste, die in unserer Stammkneipe diesen Pudding sahen, machten großen Augen, denn Pudding, das war zu dieser Zeit etwas Köstliches und ganz Besonderes und besonders Seltenes.

Mitte Februar wurden wir in einen Gütertransportzug verfrachtet in Richtung Frankfurt an der Oder, aber das wussten wir zu der Zeit noch nicht. Wir sind von Wiener Neustadt durch die Tschechei gefahren. Der Zug war in der Anfahrt auf Dresden, und direkt vor unserer Nase begann der schreckliche Bombenangriff auf Dresden. Wir sahen Licht und Flammen, haben ein Grollen gehört, aber von den Bombenwürfen selbst nichts mitbekommen. Dann wurde der Zug ungeleitet über Zwickau Richtung Potsdam. Der Zug war ewig lange unterwegs, und weil er nicht geheizt war, hatten wir Bolleröfen in den Waggons. Wir vertrieben uns die Zeit damit, unser Kommissbrot an dem heißen Ofen zu rösten, denn Kommissbrot hatten wir genug. Der Zug hielt in der Gegend vor Küstrin.

Auf diesen Gütertransportzug wurden sehr viele Pferde für die Artillerie und Feldküchen verladen. Die Pferde standen so dicht nebeneinander, dass sie sich wund scheuerten, weil das jedes Pferd Ammoniak ausdünstet und sie sich gegenseitig berieben hatten.


Führungsreserve


Ich war Führerreserve landete auf einem großen ehemaligen Gut (Wulkow), in dem mehrere Kompanien und die Feldküchen untergebracht waren. Dort erlebte ich etwas ganz Erschütterndes: Unser Zug kam ja später an. Als wir ankamen, waren die anderen schon mit den Volkssturmleuten dort gewesen. Die Volkssturmleute mussten ihr Gepäck, das viele Lebensmittel enthielt, die ihnen ihre Frauen mitgegeben hatten, in einem Stall abstellen. Der Stall wurde verschlossen. Irgendwann fing es fürchterlich an zu stinken. Deswegen wurde der Stall geöffnet, und das Erschütternde war, dass der größte Teil der Leute, denen dieses Gepäck gehörte, bereits gefallen war. Es war unverantwortlich, dass die Offiziere diese unausgebildeten Leute sofort in den Angriff schickten.



Stenografisch aufgenommen und bearbeitet: Ute Mielow-Weidmann




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